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Das besondere Buch

Cormac McCarthy: "Verlorene"

Es gibt diese Romane, die einem die Augen öffnen über das, was Literatur und Sprache kann, und die einen verändert zurücklassen. Man ist danach nicht mehr der gleiche Leser. Cormac McCarthys „Verlorene“ war für mich ein solcher Augenöffner. Von den ersten Zeilen an fesselt die blitzgenaue Sprache und Beschreibungskunst dieses Autors, die sich von der geradezu filmischen Erfassung mikroskopischer Details unmittelbar zu gewaltigen Panoramen weitet, die von derbem Slang und Situationskomik bruchlos ins Erhaben-Poetische übergeht.

Das Panorama, das ist der Tennessee River: auf der einen Seite, hell erleuchtet, die reiche Stadt; auf der anderen die Slums und Elendsviertel. Dort, am schlammigen Steilufer und unter Brücken, vegetieren die Außenseiter und Überlebenskünstler, die Zukurzgekommenen und Verlorenen, die von der Gesellschaft ausgespien wurden. Einer von ihnen ist Cornelius Suttree, ein Aussteiger, eigentlich aus gutem Haus stammend, intelligent, findig, aber hadernd mit sich und der Welt. Auf einem Hausboot lebt er genügsam vom Verkauf der Fische, die er gelegentlich fängt. Ziellos lebt er in den Tag hinein; nur hin und wieder unterbrechen Sauftouren mit einigen Kumpels das tägliche Einerlei. Wirkliche Nähe zu anderen gibt es kaum, seine Freundschaften sind lose und oberflächlich. Eine gewisse hilflose Fürsorglichkeit empfindet er für den unbedarften, tolpatschigen Gene Harrogate, einen Neuankömmling in der Elendsgesellschaft am Flussufer, der von einem Missgeschick ins nächste stolpert. Die Beziehung zu einer Prostituierten, die Suttree vorübergehend auf festen Boden zu bringen scheint, ist nur von kurzer Dauer. Dennoch ist er kein Gebrochener, er rappelt sich immer wieder auf, und wenn er auf seinem Hausboot morgens einen guten Kaffee genießen kann, blinzelt er immer aufs Neue zuversichtlich in den neuen Tag.

McCarthy beschreibt eine düstere Welt, bevölkert von allerlei skurrilen Gestalten und Sonderlingen, eine Welt, die geprägt ist von archaischem Überlebenskampf, von Schmutz, Tod, Alkohol und Gewalt. In präzise beschreibender Sprache führt uns der Autor durch eine Folge teils tragischer, teils grotesker, teils irrwitzig komischer Episoden im perspektivlosen Leben dieser Verlorenen. Dabei verzichtet er fast völlig auf psychologische Analyse und Innenbetrachtung: Was in den Personen vorgeht, erschließt sich aus der Außenbeschreibung von Dialog, Mimik und Gestik und spiegelt sich in der Wahrnehmung der symbolisch aufgeladenen Landschaft. Denn nicht zuletzt ist der Fluss einer der Akteure des Romans. Der träge dahinfließende Tennessee River wird zu Symbol und Chiffre, ist zugleich Lebensader und Unterweltsfluss.

„Verlorene“ ist nichts für Optimisten und auch nichts für Leser, die von einem Roman vor allem einen spannenden, verwickelten Plot erwarten. Wer aber ein wenig Geduld mitbringt und die Sprache McCarthys auf sich wirken lässt, den erwartet ein wirklich grandioses Epos.

MK

 


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